"Ratgeb-Altar" von Lutz Ackermann (Detail). Das Kunstwerk ist Teil des Herrenberger Jerg-Ratgeb-Skulpturenpfades.
Der zeitgeschichtliche Blick zurück auf die Gründung lässt ein paar wenige Einflussfaktoren erkennen, die die Entwicklung von Herrenberg bis heute maßgeblich bestimmt haben. Der Klimawandel und seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen ist einer der mächtigsten.
Während der mittelalterlichen Warmzeit, etwa 950 bis 1340, verbesserte das Klima die landwirtschaftlichen Erträge der damals entscheidenden Agrarwirtschaft. Die Bevölkerung wuchs und neben dem Handwerk nahm der Handel an Bedeutung zu. Städte wurden erweitert oder neu gegründet. Sie versprachen dem herrschenden Adel und Klerus von der prosperierenden Situation zu profitieren. Das galt auch für Herrenberg. Seine Gründung unter der Burg garantierte den Burgherren Vorteile, wie den gedeihlichen Weinbau wirtschaftlicher zu betreiben.
Indes markierte spätestens das Magdalenenhochwasser 1342 den Beginn der kleinen Eiszeit, die bis Anfang des 19. Jahrhunderts mit schwankenden klimatischen Verhältnissen andauerte. Den Lauf der Entwicklungsgeschichte vermochte sie zwar nicht zu verhindern aber zu beeinflussen. In dem kälteren Klima häuften sich Missernten. Zwischen 1570 und 1685, anderen Angaben zufolge 1600 bis 1750, jedenfalls der Zeit der Reformation und des 30-jährigen Religionskrieges, sanken die Durchschnittstemperaturen gegen Ende gar um fast 2° C.
Die Bevölkerung widerstand Krankheiten immer weniger. Seuchen konnten sich epidemisch ausbreiten. Die agrarische Mangelwirtschaft trug ihren Teil dazu bei. Verteilungskämpfe waren die Folge. Sie führten zu dem Bild einer unsicheren mittelalterlichen Zeit. Kirche und Klerus konnten auch nicht helfen, bis sie schließlich denkwürdige Glaubensverirrungen spalteten. Die Machtbalance zwischen weltlicher und geistlicher Führung überdauerte mit zunehmender Instabilität, bis das Ende des 18. Jahrhunderts gravierende gesellschaftliche Änderungen einläutete.
Denn schon während des Bevölkerungswachstums in der Warmzeit begannen Handwerk, Gewerbe und Handel zu expandieren. Sie lagen in der Hand von Bürgern, deren Stand sich neben Adel und Klerus zu etablieren begann und ihre Existenz zunehmend in Frage stellte. Die Bauern begannen mit den Aufständen im 16. Jahrhundert ihre Rechte einzufordern.
Von all dem blieb Herrenberg ebenso wenig verschont wie von dem 30 Jahre währenden Religionskrieg. In dieser Zeit brannte es 1635 vollkommen ab. Bei dem Wiederaufbau bekam es das Aussehen, das die Stadt heute noch prägt. Es war die Zeit der Renaissance, eines Johannes Kepler und eines Galileo Galilei, das Zeitalter der naturwissenschaftlich-humanistischen Aufklärung. Wissenschaften, Industrie und Handel begannen sich ihren Weg zu bahnen und mit ihnen das Bürgertum in Verantwortung zu bringen. Es begann das herrschende Weltbild abzulösen. Blicken wir heute auf diese Entwicklung zurück, erkennen wir wiederum tiefe Spuren, die uns nun Industrialisierung und Warenhandel hinterlassen haben.
Anfang des 18. Jahrhunderts kündigte die Erfindung der Dampfmaschine einen Quantensprung bei der industriellen Produktion an. Bald schon sollten massenhaft produzierte Waren von einem Wandel des Handels künden. Hatte der Bedarf bis dahin den Handel bestimmt, war es nun die Masse des Angebots, die vermarktet werden wollte. Einer von mehreren Paradigmenwechseln des Handels, dem unsere Städte gefolgt sind.
Wo dort anfangs meist das Handwerk in den Straßen dominierte, zogen bald schon Patrizier in die besten Stadtlagen und brachten ihre Kontore und Kaufhäuser mit. Handwerk und Gewerbe passten mit ihren Immissionen nicht mehr in diese neue Welt und siedelten auch wegen des größeren Platzbedarfs in besser geeignete Standorte an den Rand der Städte um. Schließlich verzehrte die Überproduktion der Industrialisierung lange Zeit jede verfügbare Ladenfläche der Stadt für den Absatz.
Daran sollte die allgemeine Motorisierung mit zunehmender Industrialisierung viel ändern. Der Handel, stets eisernen Regeln der Wirtschaftlichkeit folgend, begann jetzt seinerseits vor die Tore der Stadt zu ziehen. Wir haben uns daran angepasst und transportieren nun die Massen an Waren mit dem Auto. Das können wir uns mittlerweile leisten.
Die Folge ist allerdings, dass wir dadurch der allerorts inzwischen gut funktionierenden Stadtentwicklung entlang der Verkehrsströme zwischen den Bahnhöfen und den Stadtzentren ihre erste Störung zugefügt haben. Die zweite folgt gerade mit dem Handel im Internet. Wir müssen nicht einmal mehr zum Einkaufen hinfahren, wir lassen liefern. Auch das können wir uns inzwischen leisten.
Wozu das letztlich führt, zeigen die sterbenden Städte. Sie sind abgewirtschaftet. Investitionen lohnen nicht mehr. Tristesse kehrt ein und legt Mehltau darüber. Ein Produkt aus dem Bedarf eines entfesselten Handels, der uns immer wieder bei den uns eigenen Schwächen zu versuchen versteht und unserem Streben, jeden Vorteil nutzen zu wollen, koste es, was es wolle. Kaum zu erwarten, dass sich daran etwas ändern sollte. Unterdessen können wir uns Gedanken machen, wozu die alten Städte noch taugen.
Denn eines macht der kurze geschichtliche Exkurs deutlich: Den Handel in seiner sich stets wandelnden Form, auf die wir auch mit unserem Kaufverhalten nicht immer Einfluss haben, bekommen wir nicht mehr zurück in die Städte. Zumindest in die Mittelstädte, denn eine andere Entwicklung zeigt die Verdichtung in den großen Städten, wo die Lage noch stabil ist. Doch selbst viele Mittelstädte verstehen den Handel in der Stadt zu halten - allerdings in veränderter Form.
Wir brauchen den Handel in seiner tradierten Form auch nicht mehr in unseren Altstädten. Wir befreien uns von seinen für Verwaltung und BürgerInnen nicht fassbaren Spekulationen und entwickeln stattdessen erstmals eigene Vorstellungen von der Zukunft unserer Städte. Damit können wir Zeichen setzen und Herrenberg ganz nach vorn an die Spitze einer Entwicklung führen, in der die Altstädte ihre Funktion verändern. Brechen wir auf, die Zukunft zu entschlüsseln und ihr den Weg zu ebnen!